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Quelle: AMATIN 2022

Alleinvertriebsvereinbarungen: neue Regeln, Risiken und Chancen

Bei der Ausarbeitung, Aushandlung und Umsetzung von Vereinbarungen müssen Unternehmen sicherstellen, dass sie einer Reihe von rechtlichen Anforderungen entsprechen, unter anderem den geltenden Kartell- und Wettbewerbsvorschriften. Bei Geschäften mit ausländischen Unternehmen ist es sehr wichtig, die zwingenden Vorschriften der jeweiligen Rechtsordnung zu beachten.

Keine Regel ohne Ausnahmen

Man sollte bedenken, dass die Vorschriften der meisten Länder Geschäftspraktiken und Vereinbarungen verbieten, die den Wettbewerb auf dem Markt verhindern, einschränken oder verzerren könnten. Solche Verstöße können in den meisten Ländern, einschließlich der EU-Mitgliedsstaaten erhebliche Geldstrafen nach sich ziehen (bis zu 10% des weltweiten Jahresumsatzes des zuwiderhandelnden Unternehmens oder der Unternehmensgruppe).

Außerdem können einige Sonderregelungen und Ausnahmen gelten, wenn bestimmte wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen objektive wirtschaftliche Vorteile bringen, die die negativen Auswirkungen der Wettbewerbsbeschränkung überwiegen.

Die EU-Rechtsvorschriften (d. h. Artikel 101 Absatz 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union) stellen beispielsweise bestimmte wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen vom Verbot frei, wenn sie folgende Kriterien erfüllen:

  • Die Vereinbarungen müssen zur Verbesserung der Warenerzeugung oder -verteilung oder zur Förderung des technischen oder wirtschaftlichen Fortschritts beitragen;
  • die Verbraucher müssen angemessen an dem entstehenden Gewinn beteiligt werden;
  • die Beschränkungen müssen für die Verwirklichung der genannten Ziele unerlässlich sein;
  • die wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen dürfen den beteiligten Unternehmen keine Möglichkeit eröffnen, für einen wesentlichen Teil der betreffenden Waren den Wettbewerb auszuschalten.

Jede Vereinbarung und jede Geschäftspraxis ist daher einzeln zu prüfen, wobei die Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalls zu berücksichtigen sind.

Was ist neu in der EU?

Am 1. Juni 2022 sind in der Europäischen Union neue Vorschriften in Kraft getreten, die eine Reihe von kartell- und wettbewerbsrechtlichen Fragen (einschließlich des Alleinvertriebs) regeln:

  • eine neue Fassung der so genannten Vertikal-Gruppenfreistellungsverordnung („VVO“), d. h. die Verordnung (EU) 2022/720 der Kommission vom 10. Mai 2022 über die Anwendung von Artikel 101 Absatz 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf Gruppen von vertikalen Vereinbarungen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen, sowie
  • eine neue Fassung der Leitlinien für vertikale Beschränkungen (d.h. der sogenannten Vertikal-Leitlinien), die von der Europäischen Kommission am 10. Mai 2022 veröffentlicht wurden.

Die vorgenannte neue Verordnung und die Leitlinien sind nicht nur für die EU, sondern auch für andere Länder von großer Bedeutung.

Was bedeutet „Alleinvertrieb“?

Unter „Alleinvertriebssystem“ versteht man ein Vertriebssystem, bei dem der Anbieter ein Gebiet oder eine Kundengruppe ausschließlich sich selbst oder höchstens fünf Käufern zuweist und allen anderen Käufern den aktiven Verkauf in das Exklusivgebiet oder an die Exklusivkundengruppe untersagt. Eine solche Definition wurde kürzlich in der oben erwähnten Verordnung (EU) 2022/720 der Kommission vom 10. Mai 2022 festgelegt.

In der Praxis besteht der Hauptgrund, warum Hersteller und andere Lieferanten beabsichtigen, Alleinvertriebssysteme zu nutzen, darin, dass die Händler Anreize bekommen und:

  • finanzielle und nicht-finanzielle Investitionen tätigen, um die Marke des Anbieters in einem Gebiet zu entwickeln, in dem die Marke nicht sehr bekannt ist, oder ein neues Produkt in einem bestimmten Gebiet oder an eine bestimmte Kundengruppe verkaufen oder
  • ihre Verkaufs- und Werbemaßnahmen auf ein bestimmtes Produkt konzentrieren.

Vertriebshändler können einen Alleinvertrieb bevorzugen, weil sie sich damit ein bestimmtes Geschäftsvolumen und eine Marge sichern können, die ihre Investitionsanstrengungen rechtfertigen.

Risiken, die der Alleinvertrieb mit sich bringt

Der Alleinvertrieb kann eine Reihe von Wettbewerbsrisiken mit sich bringen, insbesondere:

  • die Verdrängung anderer Händler und damit die Verringerung sowohl des markeninternen Wettbewerbs auf der Händlerebene (d. h. des Wettbewerbs zwischen Händlern desselben Markenprodukts, entweder über den Preis oder über andere Bedingungen) als auch des markenübergreifenden Wettbewerbs (Wettbewerb zwischen Händlern von Produkten, die von Unternehmen unter verschiedenen Marken hergestellt werden);
  • Marktaufteilung, die die Preisdiskriminierung erleichtern kann, und verringerter markeninterner Wettbewerb, wenn der Anbieter ein Gebiet oder eine Kundengruppe ausschließlich einem oder mehreren Käufern zuweist;
  • Gefahr von Absprachen und/oder Aufweichung des markenübergreifenden Wettbewerbs sowohl auf der Ebene des Anbieters als auch auf der Ebene der Händler, wenn mehrere Anbieter denselben oder mehrere Händler in einem bestimmten Gebiet beauftragen.

Bei der Bewertung der Wettbewerbsrisiken, die sich aus Alleinvertriebsvereinbarungen ergeben können, muss eine Reihe von Faktoren berücksichtigt werden, u. a:

  • die Marktanteile des Anbieters und des Abnehmers;
  • die Marktstellung des Anbieters und seiner Wettbewerber;
  • die Anzahl der für ein bestimmtes Gebiet oder eine bestimmte Kundengruppe benannten Vertriebshändler;
  • die Besonderheiten des Marktes (z. B. können wachsende Nachfrage, sich verändernde Marktpositionen und sich wandelnde Technologien die negativen Auswirkungen von Alleinvertriebssystemen weniger wahrscheinlich machen als auf reifen Märkten);
  • die Art des Produkts (z. B. werden wettbewerbswidrige Auswirkungen des Alleinvertriebs in Sektoren, in denen der Online-Verkauf stärker verbreitet ist, weniger akut sein, da der Online-Verkauf Käufe bei Händlern außerhalb des Alleinvertriebsgebiets oder der Kundengruppe erleichtern kann) usw.

Alleinvertrieb im Einklang mit dem Gesetz

Lieferanten können einen Alleinvertrieb einrichten, wenn sie eine Reihe von Kriterien erfüllen, die in den EU-Verordnungen vorgesehen sind, u. a. wenn:

  • der Marktanteil des Anbieters und des Abnehmers nicht mehr als 30 % beträgt;
  • der Anbieter nicht mehr als fünf Vertriebshändler pro Gebiet oder Kundengruppe mit Ausschließlichkeitsbindung benennt;
  • die Alleinvertriebsvereinbarung keine so genannten „Kernbeschränkungen“ enthält (d. h. schwerwiegende Wettbewerbsbeschränkungen, z. B. Preisbindung usw.).

In der Regel stellt der Ausschluss anderer Händler keinen Wettbewerbsverstoß dar, wenn der Anbieter, der das Alleinvertriebssystem anwendet, eine große Zahl von Alleinvertriebshändlern auf demselben relevanten Markt ernennt und diese Alleinvertriebshändler nicht am Verkauf an andere, nicht zugelassene Händler gehindert werden. Der Ausschluss anderer Händler vom Markt kann jedoch ein Wettbewerbsrisiko darstellen, wenn ein Alleinvertriebshändler zum Alleinabnehmer für einen ganzen Markt wird.

Eine Alleinvertriebsvereinbarung kann objektiv gerechtfertigt sein, wenn sie eine Reihe von Kriterien erfüllt, z. B.:

  • wenn die Ausschließlichkeit notwendig ist, um für die Händler Anreize für Investitionen zu schaffen: (a) die Marke des Anbieters auszubauen oder b) nachfragefördernde Dienstleistungen zu erbringen oder c) spezifische Ausrüstungen, Fähigkeiten oder Know-how zu erwerben, um die Bedürfnisse einer bestimmten Kundengruppe zu befriedigen;
  • wenn eine solche Alleinvertriebsvereinbarung neue Produkte, komplexe Produkte oder Produkte betrifft, deren Qualitäten vor dem Verbrauch (so genannte Erfahrungsprodukte) oder sogar nach dem Verbrauch (so genannte Glaubwürdigkeitsprodukte) schwer zu beurteilen sind;
  • wenn der Alleinvertrieb aufgrund von Größenvorteilen bei Transport und Vertrieb zu Einsparungen bei den Logistikkosten führt;
  • wenn die Ausschließlichkeitsvereinbarung von begrenzter Dauer ist und sicherstellen soll, dass die Alleinvertriebshändler ihre Investitionen amortisieren können.

Unsere Empfehlungen

Jede Alleinvertriebsvereinbarung sollte einzeln geprüft werden, um alle Risiken zu ermitteln, wobei sowohl die geltende Gesetzgebung als auch die jüngste Strafverfolgungspraxis in den betreffenden Ländern berücksichtigt werden sollten.

Wir empfehlen, Vertriebsvereinbarungen sorgfältig abzufassen und auszuhandeln und dabei eine Reihe von Instrumenten zur Risikominderung einzusetzen (u. a. angemessene Formulierung von Risikominderungsklauseln, entsprechende Begründung in den internen Dokumenten des Unternehmens usw.).

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